Von meiner Fensterbank überblicke ich einen großen Theatervorplatz auf dem ein kleiner Wanderzirkus sich einrichtet. Fahrende Zigeuner sind in Hildesheim eingetroffen und haben zwei Käfige mit Braunbären mitgebracht. Sie sind hinter dicke Eisenstäben verbannt und wandern immer auf und ab, schütteln ihren Körper und Köpfe und gähnen mit spitzen, gelben Zähnen in Richtung neugieriger Passanten, die jedoch uninteressiert vorbeieilen.
Ich lausche auf die Geräusche meiner Mutter, die das Essen in der Küche zubereitet. Leise verlasse ich unsere Wohnung, um die Bären aus der Nähe betrachten zu können. Noch nie bin ich allein aus dem Haus gegangen. Die Haustür lässt sich nur schwer öffnen. Es ist kühl ohne Jacke und Schuhe, die ich vergessen hatte anzuziehen.
Ein Clown ruft den Passanten zu, dass eine Vorführung gleich beginnen wird. Eine Traube von Menschen zieht sich um einen abgesteckten Platz zusammen. Ich drücke mich durch die Menschenmenge, um möglichst dicht an die Bärenkäfige zu gelangen.
Die schweren Klauen der Bären kratzen über den Holzboden der Käfige, den ihre scharfen Krallen bereits aufgeritzt haben. Manchmal richten sich die wilden Tiere in der dunklen Ecke ihrer Käfige unruhig auf, wiegen ihre schweren Schädel und drehen sich in den Schultern hin und her. Wie groß die sind! Viel größer als alle Menschen.
Ich friere und zittere, während ich wie hypnotisiert die Eingesperrten beobachte. Ich reiche kaum bis zu den Gitterstäben und entferne mich ein paar Schritte von den Anhängern, um die Bären überhaupt richtig betrachten zu können. Aufmerksam versuche ich mir Unbekanntes zu erfassen.
An einer langen Eisenkette wird einer der Bären aus dem Käfig geholt. An seiner empfindlichen Nase ist ein Ring befestigt, der ihm bei jeder Bewegung Schmerzen bereitet. Meister Petz zuckt zusammen, wenn der Dompteur daran zieht. Mit schwerer Hand drückt er dem Bären seinen Willen auf, der sich in voller Größe aufrichten und zur Melodie der Fiedel tanzen soll. Mit einem spitzen Haken, an einem langen Stock, macht der Dompteur sich den sonst wilden Gesellen untertan. Schmerzen lassen den riesigen Bären schrumpfen, während der kleine Dompteur sich stark und mächtig fühlt.
Ich entdecke, dass ein Schlüssel im Schloss des Käfigs steckt, sperre ungelenk auf und klettere hinein. Es riecht streng nach der wilden Bärin, die sich flach auf den Boden vor mir legt. Ich sinke neben ihr auf die Knie und kraule das weiche Fell des wilden Tiers zwischen den Ohren. Die schweren Pranken mit den spitzen Krallen liegen ruhig neben mir, als ich mich glücklich über die Bärin beuge. Ich setze mich daneben, schiebe meine Beine unter ihren schweren, warmen Leib und fühle ihren Atem, der mich sanft berührt. Ihr Herz schlägt im Gleichklang mit dem meinen, in jenem Rhythmus der verzaubert. Pure Zuneigung erwärmt mich. Das braune Fell der Bärin bedeckt meine eiskalten Beine. Meine Hände streicheln das plötzlich zahme Tier sanft im Takt unserer Herzen. Wir verschmelzen zu einer Einheit und ich fühle mich dazugehörig, warm gehalten und geborgen.
Der schriller Schrei meiner Mutter implodiert tief in mir. Er holt mich aus dem Zentrum meiner Gefühle und ich spüre Mutters Angst körperlich, so als wäre sie meine eigene. Es ist ein ungutes Gefühl, das mich aus einer mir sonst fremden, doch plötzlich vertrauten Welt, herauskatapultiert. Als der Dompteur sich unserer Einheit nähert, wird aus der ruhigen Bärin wieder ein gefährliches, wildes Tier. Schwer nur lösen wir uns aus der Umklammerung, die mich bis zum heutigen Tag gefangen hält.
Ganz auf mich gestellt hatte ich mich sicher gefühlt. Urvertrauen gab mir jene Kraft, nach der ich mich mein ganzes Leben lang sehnen und suchen würde…
Ein Kapitel aus dem Buch „Als Mutter mit mir tanzte“