
Nicht was wir gelebt haben, ist das Leben,
sondern das,
woran wir uns erinnern und wie wir uns daran erinnern,
um davon zu erzählen.
Gabriel Garcia Márquez
Sieben Jahrzehnte liegen bei mir zwischen den zarten Knospen des Gestern und dem von Erinnerung eingefärbten Heute. Die Farbe und Konsistenz der Blätter wechseln im Laufe eines Jahres, so wie die vergangenen Jahre meine Werte und Gedanken veränderten, sich meine Prioritäten verlagerten. Vom hellen Grün des Frühjahrs wurden die Farben zum intensiven Bunt. Ein Bunt das mir gefällt.
Meine Gesundheit ist fragil, die fortschreitende chronische Erkrankung äußert sich auch in Luftnot. Meine Atmung nimmt mich ganz in Anspruch, wenn das Herz mehr pumpt und der Sauerstoffgehalt im Blut sinkt. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ein Mensch ohne Atmung nicht leben kann, ich aber seit meiner Kindheit unter Luftnot wie meine Mutter gelitten habe. Wir sind uns in unserer Krankheit nahe.
Ich schließe meine Augen, um Revue passieren zu lassen, pendle zwischen Fantasie und Wirklichkeit, verliere mich in Raum und Zeit und entdecke Situationen, die mich prägten. In Gedanken schreibe ich ein neues Buch über meine Kindheit.
Ich nenne es
„Als Mutter mit mir tanzte“.
Ein Kapitel daraus stelle ich hier ein: „Im Bärenkäfig“.
Von meiner Fensterbank überblicke ich einen großen Theatervorplatz auf dem ein kleiner Wanderzirkus sich einrichtet. Fahrende Zigeuner sind in Hildesheim eingetroffen und haben zwei Käfige mit Braunbären mitgebracht. Sie sind hinter dicke Eisenstäben verbannt und wandern immer auf und ab, schütteln ihren Körper und Köpfe und gähnen mit spitzen, gelben Zähnen in Richtung neugieriger Passanten, die jedoch uninteressiert vorbeieilen.
Ich lausche auf die Geräusche meiner Mutter, die das Essen in der Küche zubereitet. Leise verlasse ich unsere Wohnung, um die Bären aus der Nähe betrachten zu können. Noch nie bin ich allein aus dem Haus gegangen. Die Haustür lässt sich nur schwer öffnen. Es ist kühl ohne Jacke und Schuhe, die ich vergessen hatte anzuziehen.
Ein Clown ruft den Passanten zu, dass eine Vorführung gleich beginnen wird. Eine Traube von Menschen zieht sich um einen abgesteckten Platz zusammen. Ich drücke mich durch die Menschenmenge, um möglichst dicht an die Bärenkäfige zu gelangen.
Die schweren Klauen der Bären kratzen über den Holzboden der Käfige, den ihre scharfen Krallen bereits aufgeritzt haben. Manchmal richten sich die wilden Tiere in der dunklen Ecke ihrer Käfige unruhig auf, wiegen ihre schweren Schädel und drehen sich in den Schultern hin und her. Wie groß die sind! Viel größer als alle Menschen.
Ich friere und zittere, während ich wie hypnotisiert die Eingesperrten beobachte. Ich reiche kaum bis zu den Gitterstäben und entferne mich ein paar Schritte von den Anhängern, um die Bären überhaupt richtig betrachten zu können. Aufmerksam versuche ich mir Unbekanntes zu erfassen.
An einer langen Eisenkette wird einer der Bären aus dem Käfig geholt. An seiner empfindlichen Nase ist ein Ring befestigt, der ihm bei jeder Bewegung Schmerzen bereitet. Meister Petz zuckt zusammen, wenn der Dompteur daran zieht. Mit schwerer Hand drückt er dem Bären seinen Willen auf, der sich in voller Größe aufrichten und zur Melodie der Fiedel tanzen soll. Mit einem spitzen Haken, an einem langen Stock, macht der Dompteur sich den sonst wilden Gesellen untertan. Schmerzen lassen den riesigen Bären schrumpfen, während der kleine Dompteur sich stark und mächtig fühlt.
Ich entdecke, dass ein Schlüssel im Schloss des Käfigs steckt, sperre ungelenk auf und klettere hinein. Es riecht streng nach der wilden Bärin, die sich flach auf den Boden vor mir legt. Ich sinke neben ihr auf die Knie und kraule das weiche Fell des wilden Tiers zwischen den Ohren. Die schweren Pranken mit den spitzen Krallen liegen ruhig neben mir, als ich mich glücklich über die Bärin beuge. Ich setze mich daneben, schiebe meine Beine unter ihren schweren, warmen Leib und fühle ihren Atem, der mich sanft berührt. Ihr Herz schlägt im Gleichklang mit dem meinen, in jenem Rhythmus der verzaubert. Pure Zuneigung erwärmt mich. Das braune Fell der Bärin bedeckt meine eiskalten Beine. Meine Hände streicheln das plötzlich zahme Tier sanft im Takt unserer Herzen. Wir verschmelzen zu einer Einheit und ich fühle mich dazugehörig, warm gehalten und geborgen.
Der schriller Schrei meiner Mutter implodiert tief in mir. Er holt mich aus dem Zentrum meiner Gefühle und ich spüre Mutters Angst körperlich, so als wäre sie meine eigene. Es ist ein ungutes Gefühl, das mich aus einer mir sonst fremden, doch plötzlich vertrauten Welt, herauskatapultiert. Als der Dompteur sich unserer Einheit nähert, wird aus der ruhigen Bärin wieder ein gefährliches, wildes Tier. Schwer nur lösen wir uns aus der Umklammerung, die mich bis zum heutigen Tag gefangen hält.
Ganz auf mich gestellt hatte ich mich sicher gefühlt. Urvertrauen gab mir jene Kraft, nach der ich mich mein ganzes Leben lang sehnen und suchen würde…
Ein Kapitel aus dem Buch „Als Mutter mit mir tanzte“
Sie stand da, die Birke
In der Natur, seit über vierzig Jahr
Sie stand und war, auch ohne mich
Jetzt steht sie nur und ist nicht mehr
Es krauchte und flauchte in und auf ihr
Es flog und klopfte
Hellbrauen Tiere mit langem Schwanz
Der bunte Specht, um zu überleben
Die Tauben, zum Liebe machen
Die Äste, die sich bewegten
Die Äste, jetzt kahl
Braunes Laub und Trockenheit
In der Mitte, ein Teil des alten Lebens
Im Stamm das Ungewisse
Das, was aus dem Körper wird
Ein Körper in der Natur
Im Kreislauf des Lebens
Äste, die fielen
Äste, die grünten
Äste, die blieben und blühten
Im Winter, der Schnee
In Eiseskälte, die Tiere
Die Vögel, am Knödel
Am Boden, der Fuchs
Er blieb trotz Schnee
Rollte sich in den Wurzeln zusammen
Wurde zum Ball, zum Ball aus Fell
Er würde überleben
Nicht wie der Baum
Seine Äste trocken im Wind
Gegen den blauen Himmel
Gegen Himmel stahlgrau
Jetzt kommt die Entscheidung
Wird er gehen, oder bleiben
In der Natur, die alles verändert
Wie auch ich
Sie blickte vom Bett aus dem Fenster und beobachtete die Äste des Baumes, die sich im Wind bewegten. Vor wenigen Wochen hatte sie diese noch im vollen grünen Laub in der Sonne leuchten gesehen. Als das helle Sonnenlicht sie berührte, war sie noch im Besitz ihrer Kräfte.
Es regnete und Tropfen liefen tränengleich über das Fenster. Die Äste des Baumes wurden schwer vom Sturm geschüttelt, richteten sich auf und drehten sich in alle Richtungen. Es schien, als ob sie abbrechen sollten, als ob der Himmel sich gegen den Baum verschworen hatte, der der rettende Begleiter in den vergangenen Wochen für sie gewesen war. Sie liebte ihn.
Mit der Zeit ihres Leidens waren ihre Kräfte schwächer geworden und sie fühlte sich nicht mehr sicher auf der Schaukel ihrer Gefühle, die manchmal hoch hinaus und dann wieder tief hinunter schwangen. Sie versteckte ihre Not, ließ sie nur hinaus in den Stunden der Schwäche, die sie sich nur allein zugestand. Es waren jene Stunden, die sie zweifeln und verzweifeln ließen.
Manchmal fühlte sie sich noch wohl und gehalten, immer öfter spürte sie die Hitze der Hölle. Sie büßte ihre Sünden im Fegefeuer ihrer Schmerzen, erfreute sich an der Natur und litt zugleich. Vom Baum ließ sie sich führen, vor sich hintreiben und ruhig werden. Der Baum war ihr Gefährte, ein Freund in allen Sorgen und Nöten, ein Wegweiser für die Zukunft. Sie sprach mit ihm, wie mit einem Freund. Er verstand sie auch ohne Worte.
Als der Herbst das Laub bunt färbte, und ihre Lieblingsjahreszeit begann, wurden die Erinnerungen an das Leben reif wie der Wein zur Zeit der Lese.
Sie stellte sich vor, wie sich die Äste im Winter baren gegen den Himmel strecken und der Wind den Schnee gegen das Fenster blasen würde. Sie fühlte die Kälte eines strengen Winters in sich implodieren. Merkte, dass die Sicht auf den Baum eingeschränkter wurde. Ihr Augen ließen nach.
Sie wünschte sich eins zu sein mit der Erde, die so gut roch, wenn das Herbstlaub in Verwesung überging. Sanft würde der Schnee auf ihr Grab fallen und Blumen im Frühjahr kräftig und stark aus dem Boden über ihr sprießen. Sie brauchte dann kein Augenlicht mehr, um mit der Natur zu verschmelzen. Der Abschied vom Baum fiel ihr schwer. Er winkte ihr liebevoll zu. Und sie dankte ihm von ganzem Herzen für die Begleitung.
Es war Zeit zu gehen. Sie hoffte, dass mit den Boten des Frühlings ihr Geist auferstehen würde, um sich einen neuen Weg zu suchen. Vielleicht würde ein Baum am Grab ihr zukünftiger Gefährte sein. Seine Wurzeln würden sie berühren und eine Nähe entstehen, die aus der Verschmelzung der Natur entstand. Die Sonne würde ihre Strahlen über sie gießen, der Regen ihre Wurzeln befeuchten, damit sie Liebe spüren konnte, die auch alles in der Natur miteinander verband. Eine unendliche Liebe…