
Nicht was wir gelebt haben, ist das Leben,
sondern das,
woran wir uns erinnern und wie wir uns daran erinnern,
um davon zu erzählen.
Gabriel Garcia Márquez
Sie stand da, die Birke
In der Natur, seit über vierzig Jahr
Sie stand und war, auch ohne mich
Jetzt steht sie nur und ist nicht mehr
Es krauchte und flauchte in und auf ihr
Es flog und klopfte
Hellbrauen Tiere mit langem Schwanz
Der bunte Specht, um zu überleben
Die Tauben, zum Liebe machen
Die Äste, die sich bewegten
Die Äste, jetzt kahl
Braunes Laub und Trockenheit
In der Mitte, ein Teil des alten Lebens
Im Stamm das Ungewisse
Das, was aus dem Körper wird
Ein Körper in der Natur
Im Kreislauf des Lebens
Äste, die fielen
Äste, die grünten
Äste, die blieben und blühten
Im Winter, der Schnee
In Eiseskälte, die Tiere
Die Vögel, am Knödel
Am Boden, der Fuchs
Er blieb trotz Schnee
Rollte sich in den Wurzeln zusammen
Wurde zum Ball, zum Ball aus Fell
Er würde überleben
Nicht wie der Baum
Seine Äste trocken im Wind
Gegen den blauen Himmel
Gegen Himmel stahlgrau
Jetzt kommt die Entscheidung
Wird er gehen, oder bleiben
In der Natur, die alles verändert
Wie auch ich
Meiner Mutter hätte der Platz in der Nähe einer Kirche auf einer Anhöhe im Münchner Umland gefallen. Die Aussicht ist gut, stundenlang würde sie hier sitzen und vor sich hinträumen. Der Föhn lässt die Alpen näher erscheinen, als sie es sind. Zwischen Wolkenbergen scheint die Sonne immer wieder hindurch, es könnte sein, dass es Regen gibt. Vielleicht setzt sich die Sonne auch durch, es bleibt ungewiss. Obwohl es Juli ist, braucht man eine Jacke, mancher trägt einen Schirm mit sich. Kaum jemand spricht, man reicht sich die Hände.
Meine zehn Jahre jüngere Schwester hat einen dicken Strauß Rosen mitgebracht und reicht jedem eine. Ihr Gesicht ist gerötet, in ihren Augen stehen Tränen, und jedem, dem sie eine der Rosen gibt geht es ähnlich. Allmählich bildet sich ein loser Halbkreis und viele von denen, die gekommen sind, hatten auch schon an der Trauerfeier teilgenommen. Alle kannten Anna, obwohl niemand die Frau kannte, die meine Mutter gewesen ist.
Auf der anderen Seite der hüfthohen Natursteinmauer stehen Apfelbäume, die Früchte sind schon kinderfaustgroß, es wird ein gutes Apfeljahr werden. Ein paar Zweige ragen sogar über das Mäuerchen. Der Platz ist mit Sorgfalt und Liebe gewählt, das frische Grab hat meine Schwester mit Feldsteinen einfassen lassen, noch lässt ein grüner Kunstrasen ein Loch im Boden frei. Die Urne wird darin versenkt und mit Erde und Blumen bedeckt.
Meine Schwester beginnt zu sprechen, sagt, dass sie beim Aufräumen in Mutters Wohnung ein Gedicht gefunden hat. Ihre Stimme schwankt, während sie vorliest, was mit sanft geschwungener Schrift auf dem weißen Blatt aufgeschrieben wurde. Ich starre auf die Endgültigkeit des Grabes und höre den letzten Gruß, den meine Mutter uns mitgibt:
„Genieße die Sonne, den Regen, den Wind,
schau an die Blumen, die Tiere, das Kind.
Genieße die Schönheit ringsumher –
denn eines Tages kannst du es nicht mehr!
Erfreu dich an Büchern, an Bildern, Musik,
schieb weg, was dich ängstigt und bedrückt,
freu selbst dich am Alltagseinerlei –
denn eines Tages ist alles vorbei.“