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Birkenleben

Sie stand da, die Birke

In der Natur, seit über vierzig Jahr

Sie stand und war, auch ohne mich

Jetzt steht sie nur und ist nicht mehr

Es krauchte und flauchte in und auf ihr

Es flog und klopfte

Hellbrauen Tiere mit langem Schwanz

Der bunte Specht, um zu überleben

Die Tauben, zum Liebe machen

Die Äste, die sich bewegten

Die Äste, jetzt kahl

Braunes Laub und Trockenheit

In der Mitte, ein Teil des alten Lebens

Im Stamm das Ungewisse

Das, was aus dem Körper wird

Ein Körper in der Natur

Im Kreislauf des Lebens

Äste, die fielen

Äste, die grünten

Äste, die blieben und blühten

Im Winter, der Schnee

In Eiseskälte, die Tiere

Die Vögel, am Knödel

Am Boden, der Fuchs

Er blieb trotz Schnee

Rollte sich in den Wurzeln zusammen

Wurde zum Ball, zum Ball aus Fell

Er würde überleben

Nicht wie der Baum

Seine Äste trocken im Wind 

Gegen den blauen Himmel

Gegen Himmel stahlgrau

Jetzt kommt die Entscheidung

Wird er gehen, oder bleiben

In der Natur, die alles verändert

Wie auch ich

Keine Rückkehr

Meiner Mutter hätte der Platz in der Nähe einer Kirche auf einer Anhöhe im Münchner Umland gefallen. Die Aussicht ist gut, stundenlang würde sie hier sitzen und vor sich hinträumen. Der Föhn lässt die Alpen näher erscheinen, als sie es sind. Zwischen Wolkenbergen scheint die Sonne immer wieder hindurch, es könnte sein, dass es Regen gibt. Vielleicht setzt sich die Sonne auch durch, es bleibt ungewiss. Obwohl es Juli ist, braucht man eine Jacke, mancher trägt einen Schirm mit sich. Kaum jemand spricht, man reicht sich die Hände. 

   Meine zehn Jahre jüngere Schwester hat einen dicken Strauß Rosen mitgebracht und reicht jedem eine. Ihr Gesicht ist gerötet, in ihren Augen stehen Tränen, und jedem, dem sie eine der Rosen gibt geht es ähnlich. Allmählich bildet sich ein loser Halbkreis und viele von denen, die gekommen sind, hatten auch schon an der Trauerfeier teilgenommen. Alle kannten Anna, obwohl niemand die Frau kannte, die meine Mutter gewesen ist. 

   Auf der anderen Seite der hüfthohen Natursteinmauer stehen Apfelbäume, die Früchte sind schon kinderfaustgroß, es wird ein gutes Apfeljahr werden. Ein paar Zweige ragen sogar über das Mäuerchen. Der Platz ist mit Sorgfalt und Liebe gewählt, das frische Grab hat meine Schwester mit Feldsteinen einfassen lassen, noch lässt ein grüner Kunstrasen ein Loch im Boden frei. Die Urne wird darin versenkt und mit Erde und Blumen bedeckt.  

   Meine Schwester beginnt zu sprechen, sagt, dass sie beim Aufräumen in Mutters Wohnung ein Gedicht gefunden hat. Ihre Stimme schwankt, während sie vorliest, was mit sanft geschwungener Schrift auf dem weißen Blatt aufgeschrieben wurde. Ich starre auf die Endgültigkeit des Grabes und höre den letzten Gruß, den meine Mutter uns mitgibt:

„Genieße die Sonne, den Regen, den Wind,

schau an die Blumen, die Tiere, das Kind.

Genieße die Schönheit ringsumher –

denn eines Tages kannst du es nicht mehr!

Erfreu dich an Büchern, an Bildern, Musik,

schieb weg, was dich ängstigt und bedrückt,

freu selbst dich am Alltagseinerlei –

denn eines Tages ist alles vorbei.“