
Nicht was wir gelebt haben, ist das Leben,
sondern das,
woran wir uns erinnern und wie wir uns daran erinnern,
um davon zu erzählen.
Gabriel Garcia Márquez
Sieben Jahrzehnte liegen bei mir zwischen den zarten Knospen des Gestern und dem von Erinnerung eingefärbten Heute. Die Farbe und Konsistenz der Blätter wechseln im Laufe eines Jahres, so wie die vergangenen Jahre meine Werte und Gedanken veränderten, sich meine Prioritäten verlagerten. Vom hellen Grün des Frühjahrs wurden die Farben zum intensiven Bunt. Ein Bunt das mir gefällt.
Meine Gesundheit ist fragil, die fortschreitende chronische Erkrankung äußert sich auch in Luftnot. Meine Atmung nimmt mich ganz in Anspruch, wenn das Herz mehr pumpt und der Sauerstoffgehalt im Blut sinkt. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ein Mensch ohne Atmung nicht leben kann, ich aber seit meiner Kindheit unter Luftnot wie meine Mutter gelitten habe. Wir sind uns in unserer Krankheit nahe.
Ich schließe meine Augen, um Revue passieren zu lassen, pendle zwischen Fantasie und Wirklichkeit, verliere mich in Raum und Zeit und entdecke Situationen, die mich prägten. In Gedanken schreibe ich ein neues Buch über meine Kindheit.
Ich nenne es
„Als Mutter mit mir tanzte“.
Ein Kapitel daraus stelle ich hier ein: „Im Bärenkäfig“.
Sie stand da, die Birke
In der Natur, seit über vierzig Jahr
Sie stand und war, auch ohne mich
Jetzt steht sie nur und ist nicht mehr
Es krauchte und flauchte in und auf ihr
Es flog und klopfte
Hellbrauen Tiere mit langem Schwanz
Der bunte Specht, um zu überleben
Die Tauben, zum Liebe machen
Die Äste, die sich bewegten
Die Äste, jetzt kahl
Braunes Laub und Trockenheit
In der Mitte, ein Teil des alten Lebens
Im Stamm das Ungewisse
Das, was aus dem Körper wird
Ein Körper in der Natur
Im Kreislauf des Lebens
Äste, die fielen
Äste, die grünten
Äste, die blieben und blühten
Im Winter, der Schnee
In Eiseskälte, die Tiere
Die Vögel, am Knödel
Am Boden, der Fuchs
Er blieb trotz Schnee
Rollte sich in den Wurzeln zusammen
Wurde zum Ball, zum Ball aus Fell
Er würde überleben
Nicht wie der Baum
Seine Äste trocken im Wind
Gegen den blauen Himmel
Gegen Himmel stahlgrau
Jetzt kommt die Entscheidung
Wird er gehen, oder bleiben
In der Natur, die alles verändert
Wie auch ich
Sie blickte vom Bett aus dem Fenster und beobachtete die Äste des Baumes, die sich im Wind bewegten. Vor wenigen Wochen hatte sie diese noch im vollen grünen Laub in der Sonne leuchten gesehen. Als das helle Sonnenlicht sie berührte, war sie noch im Besitz ihrer Kräfte.
Es regnete und Tropfen liefen tränengleich über das Fenster. Die Äste des Baumes wurden schwer vom Sturm geschüttelt, richteten sich auf und drehten sich in alle Richtungen. Es schien, als ob sie abbrechen sollten, als ob der Himmel sich gegen den Baum verschworen hatte, der der rettende Begleiter in den vergangenen Wochen für sie gewesen war. Sie liebte ihn.
Mit der Zeit ihres Leidens waren ihre Kräfte schwächer geworden und sie fühlte sich nicht mehr sicher auf der Schaukel ihrer Gefühle, die manchmal hoch hinaus und dann wieder tief hinunter schwangen. Sie versteckte ihre Not, ließ sie nur hinaus in den Stunden der Schwäche, die sie sich nur allein zugestand. Es waren jene Stunden, die sie zweifeln und verzweifeln ließen.
Manchmal fühlte sie sich noch wohl und gehalten, immer öfter spürte sie die Hitze der Hölle. Sie büßte ihre Sünden im Fegefeuer ihrer Schmerzen, erfreute sich an der Natur und litt zugleich. Vom Baum ließ sie sich führen, vor sich hintreiben und ruhig werden. Der Baum war ihr Gefährte, ein Freund in allen Sorgen und Nöten, ein Wegweiser für die Zukunft. Sie sprach mit ihm, wie mit einem Freund. Er verstand sie auch ohne Worte.
Als der Herbst das Laub bunt färbte, und ihre Lieblingsjahreszeit begann, wurden die Erinnerungen an das Leben reif wie der Wein zur Zeit der Lese.
Sie stellte sich vor, wie sich die Äste im Winter baren gegen den Himmel strecken und der Wind den Schnee gegen das Fenster blasen würde. Sie fühlte die Kälte eines strengen Winters in sich implodieren. Merkte, dass die Sicht auf den Baum eingeschränkter wurde. Ihr Augen ließen nach.
Sie wünschte sich eins zu sein mit der Erde, die so gut roch, wenn das Herbstlaub in Verwesung überging. Sanft würde der Schnee auf ihr Grab fallen und Blumen im Frühjahr kräftig und stark aus dem Boden über ihr sprießen. Sie brauchte dann kein Augenlicht mehr, um mit der Natur zu verschmelzen. Der Abschied vom Baum fiel ihr schwer. Er winkte ihr liebevoll zu. Und sie dankte ihm von ganzem Herzen für die Begleitung.
Es war Zeit zu gehen. Sie hoffte, dass mit den Boten des Frühlings ihr Geist auferstehen würde, um sich einen neuen Weg zu suchen. Vielleicht würde ein Baum am Grab ihr zukünftiger Gefährte sein. Seine Wurzeln würden sie berühren und eine Nähe entstehen, die aus der Verschmelzung der Natur entstand. Die Sonne würde ihre Strahlen über sie gießen, der Regen ihre Wurzeln befeuchten, damit sie Liebe spüren konnte, die auch alles in der Natur miteinander verband. Eine unendliche Liebe…
Auf diesen Tag hatte sie schon lange gewartet
Ihr 90. Geburtstag sollte etwas ganz besonderes werden. Sie war gerne draußen, war schon immer viel gereist – mit dem Bus, da sie nie fahren gelernt hatte. Sie liebte die Natur, das Reisen in Gruppen, den Austausch von Erlebten. Sie hätte wahrscheinlich ein Reise-Forum geliebt, wo es Gleichgesinnte gibt, man sich Fotos ansehen, erzählen, zuhören und einfach den Alltag loslassen kann.
Mit ihrem Augenlicht hatte sie schon seit einiger Zeit Probleme, sie konnte kaum noch etwas sehen – der Star. Hören fiel ihr schwer, man musste laut sprechen, denn ein Hörgerät war ihr zu unnatürlich, es schmerzte. Das Schlucken fiel ihr schwer, sie war trocken in der Kehle. Sie räusperte sich, bevor sie etwas sagte und das immer seltener. Sie verstummte zusehends.
Das Sprechen hatte sie – lange Zeit alleine in ihrer Wohnung lebend – verlernt. Nur noch selten besuchte sie jemand während der Woche, denn alle waren in ihrem Berufsleben eingespannt. Auch am Wochenende war sie meistens alleine. Trotzdem war sie zufrieden mit dem Wenigen, was ihr das Leben noch zu bieten hatte. Der Fernseher brachte Sendungen, die ihren Lebensradius erweiterten. Sie reiste nach Amerika, Afrika und lernte sogar den Jangtse kennen. Sie überstieg Mauern, die sie körperlich nie mehr erklettern konnte. Sie flog über die Kontinente, schnell und unaufhaltbar. Sie hörte alte Melodien über einen Kopfhörer und umgab sich mit alten Düften: Seifen, die etwas Besonderes waren, rund und duftend in die Schublade zu ihren Pullovern gelegt.
Das Einkaufen fiel ihr immer schwerer, das Laufen tat weh, die Knie ließen nach. Sie behauptete draußen gewesen zu sein. Nachbarn brachten den Müll für sie raus oder ihr etwas mit, verstauten es im Kühlschrank und sie vergaß, dass es dort Leckereien gab. Sie war ein Schleckermäulchen, Erdbeeren mit Sahne und Schokoladenpudding gehörten zu ihrer Sehnsucht.
Sie vergaß immer mehr, vergaß sogar das Gas abzudrehen, nachdem das Wasser gekocht hatte. Sie war alt geworden, fand das Leben hart. Sie hatte genug gelebt nach ihrem Geschmack. Als der Entschluss feststand, dass sie ins Pflegeheim musste, machten wir einen Ausflug mit ihr. Sie blickte auf die Berge in der Ferne, sah die Bäume sich im Wasser spiegeln, fühlte den Föhnwind in ihren Haaren spielen und freute sich ihres Lebens. Es war schön sie zu beobachten, denn sie wurde lebendig, glücklich und strahlte über das ganze Gesicht. Sinnlich begriff sie die fremde und doch so vertraute Umgebung, die sie früher immer bei Tagesausflügen mit dem Zuge aufgesucht hatte. So hätte ihr Alltag immer sein sollen! Reisen machte sie jünger, verlängerte ihr Leben.
Wer sie war
Sie war Schneiderin vom Beruf, sehr damenhaft, immer adrett gekleidet, trug nie Hosen. Im Heim freute sie sich über die Pflege, genoss die lang vermissten warmen Bäder, das Bürsten ihrer weißen Haare. Es fiel ihr schwer die Arme zu heben, um dies selber zu tun. Ich cremte ihr Gesicht ein und sie schien wie eine Katze zu schnurren.
So konnte sie sich wieder zeigen. Jetzt verlangte sie wieder nach bunten Farben, nach Kleidungsstücken aus Wolle und Seide. Sie wusste genau, das bestimmte Dinge nicht harmonierten, dass sie nicht zu ihr passten. Deshalb ließ sie sich Kleidungsstücke aus ihrem Schrank holen, die sie längst nicht mehr hatte tragen wollen. Sie strich über die weichen Pullover, die sie selbst gestrickt hatte, den Rock, der ihr leider zu groß geworden war. Am liebsten hätte sie sich die Dinge geändert, doch eine Nähmaschine konnte sie nicht mehr bedienen. Ihr Hände waren zittrig, es fiel ihr schwer einen Faden einzufädeln. Ihre Strumpfhosen mussten hell sein, schimmern, seidig sich beim Anziehen anfühlen. Sie verweigerte eine Hose, die man leicht überstreifen konnte. Die Füße wurden immer schwerer, wenn sie im Rollstuhl saß und aus dem Fenster blickte. Sie wollte laufen, laufen, laufen…
Kurz vor ihrem Geburtstag erkannte sie uns nicht mehr. Wir planten einen Geburtstagsausflug, wollten mit ihr in die Umgebung fahren und sie sollte sich so freuen, wie sie es früher getan hatte. Es sollte ihr einfach gut gehen.
Abflug zu anderen Gefilden
Der Sturz fand über Nacht aus dem Bett heraus auf den harten Boden statt. Sie schlug auf ihren Kopf auf, lag bestimmt lange vor dem Bett, bis eine Pflegerin sie in den frühen Morgenstunden fand und aufhob. Sie war grün und blau. Sie zitterte und wollte nicht, dass der Arzt kam. Die Schwestern machten kalte Umschläge und zogen sie für den Geburtstag an. Sie wollte nicht mehr ruhen, das Bett war ihr zuwider. Sie wartete auf etwas, was sie nicht benennen konnte. Wir hatten uns für die Mittagszeit angemeldet. Dann wollten wir sie mitnehmen, auf eine kurze Reise.
Der Bürgermeister kam bereits in den frühen Morgenstunden, um zu gratulieren. Sie schämte sich ihres Falls. Ihre Augen schwammen in Tränen. Sie reichte eine schlaffe Hand und wurde im Rollstuhl in ihr Zimmer zurück gebracht. Der Geschenkekorb mit Leckereien interessierte sie nicht. Sie wollte nichts mehr, hatte sich satt gegessen und geschaut.
Wir brachten Kuchen, Süßigkeiten, Rosenseife und Lavendelduft, den sie sonst so liebte. Mühsam kleideten wir sie an, kämmten ihr langes, weißes Haar. Sie wählte ein blaues Strickkleid, eine langen Seidenschal, mit dem sie die Auswirkungen des Falls abdecken konnte. Die Schuhe waren ihr zu schwer. Sie ließ wie eine Puppe alles mit sich machen. Ihr Blick ging nach innen.
Wir schoben sie mit den Rollstuhl in den Garten. Es war Herbst und das Stoppelfeld bleckte braune Erde. Die Sonne sandte ihre letzten Strahlen und trotzdem fror sie. Wir hatten ihr einen blauen Mantel übergezogen. Sie blickte durch uns hindurch.
Wir streichelten ihre Hände. Die Sonne erwärmte uns, wir rückten näher, um ihr Schutz gegen den Wind zu bieten. Sie sprach mit schwerer Zunge: „Danke! Machen sie es gut.“ Kein du kam mehr über ihre Lippen, die ausgetrocknet waren.
Sie genoss unsere Nähe, den Tag im Freien. Die Wiese war zum letzten Mal gemäht worden, die Bäume ließen zaghaft ihre Blätter fallen. Eines davon fiel auf ihren Schoß und sie blickte darauf. Ihre Hände zitterten, aber sie griff nicht danach. Es war zu Ende, das Greifen, das Be-Greifen. Der nächste Windstoß nahm das Blatt mit sich mit, wirbelte es auf und es begann zu fliegen. Hoch, immer höher in kleinen Stößen, dann um sich herum, um sich aprupt auf den Boden abzusetzen. Das Blatt war vergessen, hatte nie existiert. Sie blickte in die Ferne.
„Bitte, bringen Sie sie hinein! Kaffee und Kuchen ist fertig. Die anderen Heimbewohner wollen mitfeiern.“ Die Pflegerin hatte das Fenster aufgemacht und lockte uns mit Worten. Ihr gaben die Worte nichts. Die Bewohner der Gruppe hatten sie nie interessiert. Sie war immer ihren Weg alleine gegangen.
Es war schwer den Rollstuhl in der Wiese anzuschieben. Mehrmals versuchten wir es. Endlich gelang es uns ihn aus der Wiese zu dirigieren. Die Sonne brach sich auf dem Stoppelfeld, schrill kreischte eine Krähe über uns. Sie fröstelte, hob die Füße an, streckte ihre Beine aus. Es sollte schneller gehen.
Wir schoben härter und los ging es. Den Weg hinunter, um die Ecke. Immer schneller schoben wir ihren Rollstuhl. Es war, als ob sie flöge. Ihr Herz erhob sich und strebte nach oben, dem blauen Himmel entgegen.
Atmen, Atmen…
Hauch des Lebens
Die Luft gehört mir, zum Überleben.
Luft, Luft, um mich herum, in mir und dir.
Atmen, Atmen, dann bleibst du am Leben.
Leben, leben will ich, ohne Wenn und Aber.
Luft gehört dazu, ist Teil von mir.
Tief atmen, atmen…
Ruhig werden, ruhig
Setz dich in Kutscherposition,
die Arme auf den Oberschenkeln abgestützt.
Die Lippen gespitzt und langsam ausgeatmet.
Hecheln, husten, immer stärker bis zum Würgen…
Luftnot, husten, hecheln, husten, würgen…
Auf den Atem spüren, bis ich ihn fühle.
Wird er mich tragen?
Tragen wie in den letzten siebzig Jahren.
Alles Gelebte getragen und berührt.
Es ist an der Zeit, ich fühle es.
Mein Körper gibt mir vor, der Verstand gibt nach.
Der Griff zum Schlauch, wie viele Male.
Stelle höher und immer höher, die Tonne aus Leben.
Meine Augen geschlossen, horche ich in mich hinein.
Es ist Zeit für mich, für das was war.
Eine Zukunft will ich haben und gesunden.
Ist das der Anfang oder das Ende?
Kennen alle Betroffenen nicht die Suche nach einer Diagnose,
die Zeit der Schübe und der Verzweiflung,
das Finden von Verbündeten und die Suche nach einem gangbaren Weg,
die Zeit der Ruhe und des Besinnens zwischen den Schüben?
In meinem Video – gespielt vom echten Lupus – erkläre ich die Krankheit.
Informationen zum Erkrankung und anderen Kollagenosen u.a.:
http://kollagenosen.blogspot.com
Ilona Maria Hilliges wurde 1953 in Baden-Württemberg geboren, wuchs in Norddeutschland und Bayern auf und studierte in München Betriebswirtschaft. Nach Abschluss ihre Studiums lebte und arbeitete sie in Kanada, Großbritannien und Nigeria.
Über ihre Erfahrungen in Afrika schrieb sie ihren ersten autobiografischen Bestseller, der im Mai 2000 erschien. Weitere Romane und Sachbücher veröffentlichte dtv, Trias, Rowohlt und Ullstein. Einige historische und medizinische Romanserien erscheinen unter Pseudonym.
Ilona Maria Hilliges ist mit Peter Hilliges verheiratet, hat drei Töchter und einen Sohn und lebt in Berlin.